Mein Gesicht verzog sich leicht. In meinen Augen glänzten Tränen, die ich mit Mühe zurückzuhalten versuchte. Das Atmen fiel mir schwer. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als zerquetsche mir jemand gerade das Herz. Meine Kehle war wie zugeschnürt, ich hatte das Gefühl, als könne ich nicht mehr atmen. Als würden die Hauswände um uns herum immer näher kommen, uns einengen. Uns ersticken. "Ich bin hier, weil ich dich gesucht habe. Und ich werde dich weder einfach gehen, noch dich jemals fallen lassen, Bruder", kam es mit erstickter Stimme von mir.

"Ich werde dich nicht fallen lassen." "Du bist eine Schande für die Engel!" "Ich werde dich nicht fallen lassen." "Du bist nicht mehr unser Sohn!" "Ich werde sich nicht fallen lassen." Shions Worte wechselten sich mit denen aus meinen vergrabenen Erinnerungen von meinem Fall ab. Ich bemühte mich weiterhin halbwegs ruhig zu atmen und sah zu Boden. Meine Flügel zitterten in ihrer aufgerichteten Position, als wollten sie sich wieder gen Boden senken. Bruder... Das ist keine gute Idee.

Noch immer hatte ich dieses beklemmende Gefühl, das mir die Luft abschnürte und mir das Gefühl gab, nicht mehr atmen zu können. "Ich weiß, dass es eine dumme Idee ist, und ich vielleicht fallen könnte. Aber viel mehr würde es mir weh tun, wenn ich dich einfach im Stich lasse.
Ich bin nicht so und ich kann das nicht. Du bist alles, was mir geblieben ist! Und du bist mir wichtig! Ich lasse dich nicht fallen! Und wenn ich dafür durch die Hölle gehen muss!", gab ich ernst zurück.

Sprich nicht so Shion. Du darfst nicht fallen. Meine Flügel sanken hinter mir kraftlos zu Boden und ich wischte mir wieder mit der Hand über mein Gesicht, obgleich ich das Blut nicht wegbekam. Meine Augen brannten und ich musste mich zusammenreißen nicht die Hand nach meinem Bruder auszusprechen. Du hast Freunde oben im Himmel, du bist rein, du solltest nicht mehr an mich denken.

"Freunde? Ich wüsste nicht, wen ich da oben Freund nennen könnte!", gab ich sofort und ziemlich heftig zurück, "Ich werde nicht fallen.
Und schon gar nicht werde ich dich vergessen, kapiert? Wenn ich fallen würde, hätte ich längst fallen müssen! Wie gesagt: Ich werde durch die Hölle gehen, wenn es sein muss!"

Keine Freunde? Wie konnte sich das ändern? Ich konnte aber nicht nachfragen, denn Shions letzte Worte ließen mich, mich anspannen. Hör auf das zu sagen! Hör auf von der Hölle zu sprechen!

"Tut mir leid, dann sage ich es anders. Ich reiße mir lieber jede Feder einzeln aus, als dich fallen zu lassen und nicht mehr zu suchen. Was ich damit sagen will: Nie wieder lasse ich dich los oder werde aufhören, an dich zu denken", gab ich ernst zurück.

Shion, du weißt nicht wovon du da redest. Mein Gesicht war eine Maske der Verzweiflung und ich streckte eine Hand nach meinem Bruder aus, die ich aber sofort wieder zurück riss. Ich will nicht, dass die etwas passiert.

"Du hast mir das Leben gerettet. Egal was ich machen würde, ein Schritt vor die Tür ist doch bereits gefährlich! Und wenn ich dich vergessen soll, würde es mir zwar körperlich gut gehen, aber seelisch nicht!", brachte ich verzweifelt hervor. Ich wollte ihn nicht für immer verlieren. Nicht noch einmal.

Ich fuhr mir mit beiden Händem in die langen, aber durch das Blut verklebten, Haare. Warum musst du es mir so schwer machen dich zu beschützen Bruder? Wenn du bei mir bist ist es gefährlich für, physisch wie auch psychisch.

"Weil ich dich nicht vergessen kann, Bruder. Blut ist dicker als Wasser. Und ich kann das, was du möchtest, einfach nicht, es geht nicht", brachte ich hervor und schluckte leicht.

Ein harsches Lachen bahnte sich den Weg aus meiner Kehle bei seiner Wortwahl. Ich wusste gar nicht, dass du solchen Galgenhumor besitzt. Ich stand immerhin mit beiden Füßen in Lacken aus Blut. Dennoch änderte das nichts an der Miseré in der wir uns hier erneut befanden. Bruder, was denkst du kannst du tun?

Kurz grinste ich schief. Ups. Der Spruch was unüberlegt... Jedoch sagte ich nichts dazu, sondern ging auf seine Frage ein: "Was ich tun kann? Ich weiß es nicht. Dich daran hindern, andere zu töten? Zumindest, was die Sterblichen anbelangt. Und damit ist meiner Pflicht als Engel genüge getan. Und ich... müsste nicht komplett ohne dich leben..."

Und wie glaubst du kannst du mich finden? Meine Flügel zuckten unruhig und ich sah mich um. Ich weiß selbst nicht wo ich als nächstes sein werde. Nicht genau, selb jetzt nachdem ich hoffentlich meine Karte zurück hatte.

Daraufhin verzog ich das Gesicht und zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung, irgendwie werde ich das schaffen. Ich suche einfach an den Orten mit vielen Menschen", meinte ich dann ernst.